Verein Blickkontakt

     Interessensgemeinschaft sehender, sehbehinderter und blinder Menschen

Nach tödlichem Unfall auf der U3: Wichtige Anliegen blinder und sehbehinderter Menschen

Die Stellungnahme an einige wichtige Stellen in Wien wurde vom Fachbereich Mobilität und Infrastruktur zusammengestellt

Der Verein Blickkontakt nimmt den Unfall vom 7.12.2018, bei dem ein blinder Fahrgast tödlich verunglückt ist, den Kurierartikel „Nach U6-Vorstoß: „Ess- und Trinkverbot in allen Öffis“ vom 29.11.2018, sowie die Besichtigung der neu errichteten Infosäule in der Haltestelle Rathausplatz vom 29.11.2018 zum Anlass, um Ihnen folgende Anliegen blinder und sehbehinderter Menschen näher zu bringen:

1. Stellungnahme zum tödlichen Unfall vom 07.12.2018

Der verunglückte Herr, der uns persönlich bekannt war, war vollblind und ging lediglich mit einem Blindenstock, nicht mit Krücken, wie fälschlich in den Medien behauptet worden ist.

MitarbeiterInnen des Fachbereiches Mobilität und Infrastruktur des Vereins Blickkontakt waren am 13.12.2018 zum Lokalaugenschein in der U3 Station Volkstheater, wo der tödliche Unfall passiert ist und kamen zu folgendem Ergebnis:

– Die vorhandenen Blindenleitlinien sind sehr schlecht tast- und fühlbar.
Durch die Schuhsohle sind sie kaum oder gar nicht zu spüren. Mit dem Blindenstock sind sie nicht ausreichend tastbar.

– kein farblicher Kontrast zur Bahnsteigfarbe, daher für sehbehinderte Menschen nicht ausreichend sichtbar

Es wurde uns von mehreren Mitgliedern gemeldet, dass die Blindenleitlinien in verschiedenen U-Bahn-Stationen öfter unabsichtlich gequert werden, weil man sie nicht spürt. Dadurch geraten immer wieder blinde Menschen mit dem Blindenstock über die Bahnsteigkante und sind in Gefahr, hinunter zu stürzen.

Lösungsansätze:

Es gibt wesentlich bessere tast- und fühlbare Blindenleitlinien, wie z.B. am Bahnsteig der U4 Station Heiligenstadt. Diese sind:

– sehr gut fühlbar, sowohl mit dem Blindenstock als auch durch die Schuhsohle hindurch.

– durch die weiße Farbe und den hohen Kontrast zur Bahnsteigfarbe sehr gut sichtbar für sehbehinderte Menschen

Um zukünftig tödliche Unfälle zu vermeiden, ist es erforderlich, dass alle Blindenleitlinien auf U-Bahnsteigen ebenso gut tast- und sichtbar gestaltet werden und so stabil gefertigt sein müssen, wie am Bahnsteig der U4 Station Heiligenstadt.

2. Umsetzung von Barrierefreiheit und Mehr-Sinne-Prinzip

Gemäß Straßenbahnverordnung, Novelle vom 19. September 2018 §5a Barrierefreiheit, sowie gemäß Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz von 1.1.2006, besteht für die Wiener Linien als öffentliches Verkehrsunternehmen ein klarer gesetzlicher Auftrag, Barrierefreiheit in vollem Umfang umzusetzen.

In der Praxis werden jedoch die erforderlichen Maßnahmen von den Wiener Linien nicht oder nur teilweise umgesetzt, das Mehrsinne-Prinzip findet kaum Anwendung. Dies zeigt sich etwa dadurch, dass ein hohes und weiter steigendes Maß an Fahrgastinformationen ausschließlich optisch verfügbar ist, etwa auf analogen Anzeigetafeln oder der ständig wachsenden Anzahl an Infoscreens, während die akustische Verfügbarkeit massiv eingeschränkt wurde. So wurde die für blinde und sehbehinderte Menschen enorm wichtige Ansage der Points of Interest, welche internationaler Standard ist, kurzer Hand abgeschafft.

Weiters sind vorhandene An- und durchsagen überdies oftmals zu leise, etwa wenn sie nach der Beschleunigungsphase in U-Bahnen erfolgen, wo der Fahrtlärm am größten ist. Überdies sind Störungsdurchsagen gegenüber Stationsdurchsagen priorisiert, sodass Letztere bei gleichzeitiger Auslösung nicht mehr erfolgen. Daher ist es wichtig, sie ausnahmslos nach dem Ende der Störungsmeldung erfolgen zu lassen, da sehbehinderte und blinde Fahrgäste sonst keine Möglichkeit haben zu erfahren, in welcher Station sie sich gerade befinden.

– Ein weiteres, massives Problem sind die Wiener Linien Allstars, die häufig im Inneren von U-Bahn-Haltestellen ihre Musik zum Besten geben, in denen dies enormen Hall verursacht, sodass sich blinde Menschen nicht mehr orientieren können, da aufgrund der Lautstärke sowie noch zusätzlich des beträchtlichen Halls das Gehör als einziger, blinden Menschen zur Verfügung stehender Fernsinn nicht mehr zur Orientierung genutzt werden kann. Dies ist umso unverständlicher, als die wichtige Ansage der Points of Interests ausgerechnet mit dem Argument der zu hohen „Lärmbelastung“ entfernt wurde.

3. Stellungnahme zur neuen Info Säule am Rathausplatz

Diese wurde von sämtlichen Selbsthilfeorganisationen blinder und sehbehinderter Menschen, darunter auch dem Verein Blickkontakt, aus mehreren Gründen abgelehnt:

– Die Säule enthält ausschließlich Informationen für Menschen mit Sehbehinderungen, während eine Sprachausgabe für blinde Fahrgäste, sowie eine Anzeige in ÖGS nicht vorgesehen sind. Daher ist diese Haltestelle grundsätzlich nicht als Barrierefrei zu bezeichnen.

– Die Metallrahmen mit den analogen Fahrplänen im A3-Format reichen von Brust bis Kopfhöhe und sind scharfkantig.

Die Säule selbst besteht nur aus einer einzigen Stange in der Mitte, wodurch die analogen Fahrpläne mit dem Blindenstock unterlaufen werden können und somit Verletzungsgefahr besteht. Derartig scharfkantige Fahrplanaushänge, welche ebenso von der Säule abgestanden sind gab es zwar auch bisher, dies wurde jedoch von den betroffenen blinden Fahrgästen und Blickkontakt immer kritisiert.

Haltestellensäulen, die eine barrierefreie Anbringung von Fahrplänen ermöglichen und nicht mit dem Blindenstock unterlaufen werden können, wurden bereits entwickelt (Doppelsteher). Ein Konzept zur Behübschung der Stadt (Reduktion von Stangen) darf nicht zur Gefährdung von Passanten führen (neben Menschen mit Behinderung etwa auch Kinder).

– Generell ist es wichtig, im Sinne der Barrierefreiheit und Nutzungssicherheit Stationen öffentlicher Verkehrsmittel mit abgerundeten Bau- und Informationselementen auszustatten.

– Im Übrigen ist uns vollkommen unverständlich, weshalb eine Säule, welche laut Mitarbeitern der Wiener Linien auf einen Ideenwettbewerb aus dem Jahre 2014 zurückgeht, erst vier Jahre später von Selbsthilfeorganisationen besichtigt werden kann.

– Weiters können wir nicht nachvollziehen, warum derart ausgereifte Konzepte wie die barrierefrei nutzbaren Infosäulen bei den Busstationen der Bahnhöfe Klosterneuburg Weidling und Kierling, die mittels gut verständlicher Sprachausgabe sämtliche optisch angezeigten Informationen auch blinden und sehbehinderten Menschen zur Verfügung stellen, und bei denen durch die Anzeigetafeln keinerlei Verletzungsgefahr besteht, nicht auch in Wien umgesetzt werden!

– Die Auslösung von Fahrgastinformationen mit Smartphones ist absolut keine mögliche Alternative zur voll umfänglichen Information vor Ort.

Seitens der Wiener Linien wurden Projekte wie die Haltestelle der Zukunft oder in jüngerer Zeit der sprechende E-Reader entwickelt, welche zwar im Vergleich zur in Kloster Neuburg verbauten Variante nicht optimal ausgeführt sind, jedoch klar in die richtige Richtung weisen, da sie von jedermann ohne weitere Voraussetzung bedient werden können.

Lösungen mit Smartphones können maximal ein Zusatzangebot zu diesen fix verbauten Geräten mit Sprachausgabe darstellen, da andernfalls jene zahlreichen blinden Menschen, welche aus den verschiedensten Gründen über kein Smartphone verfügen, von jeglicher Fahrgastinformation ausgeschlossen sind.
Informationen nur auf Smartphones auszulagern wird von Blickkontakt darüber hinaus aus Sicherheitsgründen abgelehnt, da gerade für blinde Menschen im Stationsbereich die höchste Konzentration erforderlich ist.

– Im Sinne der Barrierefreiheit sowie des Designs for all muss es für alle gleichermaßen möglich sein, mit den vorhandenen Sinnen an die benötigte Information zu gelangen, es darf jedoch nicht ein Vorteil für eine bestimmte Gruppe (große, Auskragende Anzeigetafeln für Menschen mit Sehbehinderung in Kopfhöhe) zum gefährlichen Nachteil für eine andere personengruppe (blinde Menschen) werden, welche die vorhandene Säule mit Fahrgastinformationen in keiner Weise selbst nutzen und sich daran verletzen können.

– Da das Rechnergesteuerte Betriebsleitsystem (RBL) der Wiener Linien bei der Angabe der Abfolge der Fahrzeuge zu ungenau ist, kommt es oft vor, dass nicht die als nächstes angekündigte Linie in die Station einfährt.

– Daher ist es unbedingt erforderlich, dass die Ansage der Linie und des Fahrtzieles für blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen durch das in die Station einfahrende Fahrzeug konsequent über Außenlautsprecher erfolgt.

Für das Fahrpersonal der Wiener Linien gibt es diesbezüglich eine gültige Dienstanweisung, deren Umsetzung in der Praxis jedoch nicht funktioniert:

Beginn Zitat:
Datum: 12. Jänner 2007
Betrifft: Verhalten gegenüber behinderten Personen

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Fahrdienst werden ersucht, folgende Maßnahmen für behinderte Personen durchzuführen:

*) Befindet sich eine behinderte Person in einer Haltestelle im Bereich der Fahrertür, so ist die Tür 1 nach dem Stillstand vom Fahrer/Lenker /von der Fahrerin/Lenkerin zu öffnen.
*) Erkennt der Fahrer/Lenker / die Fahrerin/Lenkerin in einer Haltestelle, die von mehreren Linien angefahren wird, eine sehbehinderte bzw. blinde Person, so ist über Außenlautsprecher die Linienbezeichnung und das Fahrziel durchzusagen.

Gegebenenfalls ist ein eventuell dadurch verzögerter Fahrgastwechsel durch eine verlängerte Freigabe-Zeit zu ermöglichen und – wenn möglich -zu überwachen.

Damit wird der Dienstauftrag 356 / 96 ersetzt.

Ende Zitat.

Sehbeeinträchtigte Menschen müssen meist beim Fahrpersonal von Straßenbahn und Bus in Mehrfachhaltestellen die Linie sowie das Fahrziel erfragen, da eine Durchsage über Außenlautsprecher NICHT erfolgt. Das ist in den letzten Jahren bedingt durch die Fahrerkabinen noch zusätzlich wesentlich umständlicher und in jenen Fällen gänzlich unmöglich geworden, in welchen gar keine Außenlautsprecher verbaut worden sind, etwa bei bestimmten Bustypen der Wiener Linien. Richtig gefährlich kann dies jedoch in Fahrbahnhaltestellen werden, bei welchen man zum Erfragen von Linie und Fahrziel mindestens einmal die Fahrbahn queren muss, wobei in vielen Fällen Fahrzeuge an der Türseite des öffentlichen Verkehrsmittels vorbeifahren, in welches man gerade einsteigen möchte, und somit den Weg der Fahrgäste direkt queren, was erst kürzlich beinahe zu einem Unfall geführt hätte.

Ähnlich häufig fahren Straßenbahnen entgegen obiger Dienstanweisung in Doppelhaltestellen von hinten durch, vorbei an blinden Fahrgästen, welche mit Blindenstock und/oder entsprechender Armschleife gesetzeskonform gekennzeichnet sind und im Bereich des vorderen Haltepunktes oder, falls vorhanden, auf dem Aufmerksamkeitsfeld bei der ersten Tür der Straßenbahn warten.

– In U-Bahn-Stationen gibt es keinerlei akustische ansage, wohin die Züge fahren oder taktile Hinweise am Bahnsteig, bei welcher Linie man sich befindet. Das bedeutet bei drei Linien (U1, U2 und U6 in Richtung stadtauswärts, dass sehbeeinträchtigte Menschen im Gegensatz zu sehenden Fahrgästen, welchen zahlreiche optische Informationen zur Verfügung stehen, keinerlei akustische Information am Bahnsteig haben, welche Linie einfährt, bis zu welcher Endstelle der Zug fährt und ob sie womöglich umsteigen müssen.

Lösungsansätze:

Einige der genannten Probleme wären bei intelligent konzipierten, fix verbauten Geräten mit Sprachausgabe mit entsprechenden Funktionen durchaus lösbar. So könnten diese auch genutzt werden, um sich quasi bei der einfahrenden U- oder Straßenbahn anzumelden, wodurch die Ansage der Linie sowie des Fahrzieles automatisch erfolgt, Auffindetöne der Türen abgestrahlt werden könnten etc.

Wir würden uns sehr über die Möglichkeit freuen, Ihnen unsere Anliegen in einem persönlichen Gespräch näher bringen zu dürfen und unterstützen Sie gerne bei der Verbesserung der Barrierefreiheit!
Mit freundlichen Grüßen

Mathias Schmuckerschlag, BA

Leiter des Fachbereiches Mobilität und Infrastruktur

erstellt am 06.01.2019 von Martin Oblak

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